Nr_19, aus der Serie Westen, Acryl auf Leinwand, 2021, 90 x 115 cm
Nr_39, aus der Serie Westen, Acryl auf Leinwand, 2023, 145 x 93 cm
Nr_18, aus der Serie Westen, Acryl auf Leinwand, 2021, 85 x 100 cm
W_32, aus der Serie „Westen“, Acryl auf Leinwand, 2022, 101 x 110 cm
Nr_32, aus der Serie Westen, Acryl auf Leinwand, 2022, 101 x 110 cm
Nr_29, aus der Serie Westen, 36 x 45 cm, Acryl auf Leinwand, 2022
Nr_6, aus der Serie Westen, 90 x 80 cm, Acryl auf Leinwand, 2020
Nr_9, aus der Serie Westen, 75 x 95 cm, Acryl auf Leinwand, 2020
Nr_33, aus der Serie Westen, Acryl auf Leinwand, 2022, 107 x 125 cm
Nr_38, aus der Serie Westen, Acryl auf Leinwand, 2023, 135 x 106 cm
Nr_45, aus der Serie Westen, Acryl auf Leinwand, 2023, 48 x 54 cm
Ausstellungsansicht „unpredictable past“ Galerie Irrgang, 2022
Ausstellungsansicht „unpredictable past“ Galerie Irrgang, 2022
Ausstellungsansicht „unpredictable past“ Galerie Irrgang, 2022
Ausstellungsansicht „unpredictable past“ Galerie Irrgang, 2022

Ausstellungsansicht „unpredictable past“ Galerie Irrgang, 2022
Nr_31, aus der Serie Westen, 250 x 200 cm, Acryl auf Wand, 2022

Westen
Tiefenpsychologische Dimension

„Liebe dein Symptom wie dich selbst“ fordert uns der Psychoanalytiker und prominente Schlagzeilenphilosoph Slavoj Zizek auf. Und so gerne wir uns von den scharfen Bemerkungen des kecken Slowenen polarisieren lassen, liegt doch der Einspruch auf der Zunge und es drängt sich die Frage auf: Warum eigentlich? Wieso sollte ich mein Symptom lieben?
Um diese Frage beantworten zu können, lohnt sich ein Blick in das Handbuch der Psychologie. Hier erfahren wir, dass durch Symptome im psychologischen Sinn unbewusste, aber nicht völlig verdrängte Wünsche und Motive angezeigt werden. So kann etwa die Ausbildung einer lauten Sprechstimme als Ausdruck des unbewussten Wunsches nach Anerkennung und Liebe gedeutet werden. Das fatalistische daran: Diese Wünsche sind Ausdruck essentieller Neigungen, die so tief in der Triebstruktur der Subjekte verankert sind, dass sie ihnen nicht entkommen können. Dies klingt zunächst ziemlich unangenehm. Doch wenn Nietzsche in seinem Zarathustra den Gedanken der „Ewigen Wiederkehr desselben“ entwirft, ist das keineswegs pessimistisch gemeint. Es handelt sich sogar um die Grundlage höchster Lebensbejahung. Denn die Einsicht und Akzeptanz dessen, dass uns die Dinge – die tragischen wie die schönen – wieder und wieder erscheinen, weil sie stets durch unsere triebhaft motivierten Wunschprojektionen angereichert sind, lässt uns im Idealfall ein wenig gelassener leben.
Indessen gewinnt auch die Aufforderung „liebe dein Symptom wie dich selbst“ an Plausibilität. Denn gerade der Versuch, zu lieben, was man nicht überwinden kann, erscheint im Angesicht des Unabwendbaren als das allervernünftigste – Wenn es nur so einfach wäre! Während Zizek seine Bemerkung beinahe etwas zu lässig aus dem Ärmel schüttelt, scheint es fast so als wäre es ein Kinderspiel sein Symptom zu lieben. Doch sein Symptom zu lieben heißt im Grunde, sich auf einen Prozess einzulassen, der bei der Partnersuche beginnt und sich über eine lange Beziehungsarbeit erstreckt. Im Zentrum dieser (Selbst-)Beziehung steht das Aufsuchen, Konfrontieren und Integrieren verdrängter Triebansprüche. Da dieser Prozess sehr herausfordernd und im Grunde unabschließbar ist, versuchen die meisten Menschen ihr Symptom in den Sedimentgeschichten des Unbewussten zu verwahren und vor Aufwirbelung zu schützen. Doch wie gezeigt wurde, kann sich eine Auseinandersetzung lohnen!
So gibt es einige Menschen, die entweder aus einer pathogenen Notwendigkeit oder einem intrinsischen Interesse, ihrem Symptom auf der Spur sind – Manchmal auch ohne es zu wissen.
Gabriele Worgitzki gehört zu diesen Menschen. Ob es ihre Arbeit als Künstlerin ist, die sie empfindsamer für das Unbewusste und Transzendente sein lässt, oder ob ihre individuellen Erlebnisse schließlich den Ausschlag gegeben haben, kann wohl nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Doch vor dem Hintergrund dessen, womit sich Worgitzki in den letzten drei Jahren ihres Schaffens beschäftigt hat, erscheint ihre aktuelle Serie „Westen“ in einem völlig neuen Licht. Hat sie sich in ihrer vorangegangenen Serie „Phantasma“, die im Zuge der privaten Immobiliensuche entstanden ist, mit der Frage nach den Projektionen und Wünschen von Menschen bei der Auswahl ihrer zukünftigen Behausung interessiert, veränderten sich durch ein scheinbar zufälliges Detail plötzlich die Grundfeste ihrer künstlerischen Reflexion: So stieß Worgitzki bei ihrer Suche (un)versehens auf das Haus ihrer Kindheit, von dem sie geglaubt hatte, es für immer verloren zu haben. Vor diesem Hintergrund erscheinen die letzten Schaffensjahre von Worgitzki wie eine unbewusste Vorbereitung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
Die Künstlerin ist im Alter von 15 Jahren im August des Jahres 1989 mit ihrer Familie von der DDR in die BRD ausgereist. Da der Familie wie zahllosen anderen Ausreisenden untersagt war, ihr Eigentum zu behalten, musste sie das Haus und damit einen zentralen Bestandteil der gemeinsamen Vergangenheit zurücklassen. Der Versuch, auf gerichtlichem Wege das Recht an dem Haus zugesprochen zu bekommen, blieb nach einem nicht enden wollenden Prozess erfolglos. Von da an sollte Gabriele Worgitzki die Angst davor, das Haus nie mehr wiederzusehen, nicht mehr loslassen.
Wie die Erinnerung an das Leben in der DDR verlor auch der Kreis der Familie an Kontur: Die Scheidung der Eltern, das Erwachsen und der Auszug der Kinder. Retrospektiv mag der Verlust des Familienhauses wie ein Schicksalsschlag erscheinen, durch den das einst harmonische Gefüge einer intakten Familie aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist. Unter dem Verdacht nachträglicher Verklärung stellt sich jedoch die Frage, ob es jenen Ort jemals gegeben hat? So wird das Haus der Kindheit in mannigfachen Biographien als Ort der Heimat, Sicherheit und tiefen Geborgenheit empfunden, den es zu wahren gilt und der des Schutzes vor fremden Eingriffen bedarf. Währenddessen mag es vorkommen, dass Orte retrospektiv überschrieben und mit phantasmagorischen Inhalten aufgeladen werden, die nicht selten auch Attribute eines uterinen Kosmos aufweisen.
Der Verlust des Elternhauses ist also in enger Weise verbunden mit dem Verlust der universalen Einheit mit der Mutter, dem Verschwinden einer schöpfenden und nährenden Kraft. Was während der Geburt durch den „ersten Fall“ für den Säugling an Trauma entsteht, hat die Natur nicht ohne Grund durch endokrin stimuliertes Verdrängen zu kompensieren versucht. Insofern der Verlust der Geburtsstätte als Inkubator eines sich entwickelnden Lebens auch als Wiederholung des Verlustes der ursprünglichen Einheit aufgefasst werden kann, stellt sich die Frage was ein Mensch wohl empfinden mag, wenn der verlorene Ort plötzlich wiedererscheint?
Für Worgitzki bietet ihr Familienhaus als Ort symptomatischer Projektion, der nach 31 Jahren plötzlich wiedererschienen ist, eine signifikante Grundlage zur Konfrontation und Integration unbewusster Triebansprüche, traumatischer Verluste und verdrängter Sehnsüchte. So vollzieht die Künstlerin die Auseinandersetzung mit sich und ihrer Vergangenheit, die sich vergegenwärtigt hat, anhand der seriellen künstlerischen Betrachtung. Dabei wird die Immobilie zu einem psychoanalytischen Fix- und perspektivischem Anfangspunkt, um in die Geschichte des eignen Lebens und das Geschichte des Unbewussten einzutauchen.
Während der Besichtigung des Hauses nahm Worgitzki Fotos und Videos auf, die zusammen mit alten Fotografien aus ihrer Kindheit zum Ausgangsmaterial dieser der vorliegenden Serie gehören. Durch die Ansammlung und Vermengung von Materialien, die aus verschiedenen Zeiten stammen und verschiedene Zeitpunkte repräsentieren, geriet das Phänomen der Zeit in seiner Linearität für die Künstlerin im Schaffensprozess aus den Fugen. Was Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen als „Jetztzeit“ bezeichnet, ist dieser Moment der sich auflösenden Linearität, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen. Die Auflösung der Zeit und das Verschwimmen des Hier und Jetzt der Wirklichkeit verdeutlicht die Künstlerin nicht nur durch das zeitlich diffuse Narrativ der Motivreihenfolge. So motiviert der Blick auf einzelne Motive gleichsam ein Nachdenken über die Zeit. Sehr deutlich wird dies etwa durch das Play-Pause-Symbol im Zentrum des Bildes Nr. 15 aus der Serie „Westen“, dass die Optionalität eines Pausierens und Fortsetzens vergangener Ereignisse suggeriert, dass zwar in der Gegenwart des Moments nicht praktikabel gewesen, in retrospektiver Anschauung aber durchaus möglich ist. Jene Optionalität, in der Rückschau über die Zeit zu verfügen, eröffnet dabei einen vorher verschlossenen Interaktionsraum, in dem vergangene Konflikte neu ausgetragen werden können. Jener Zugang ist es, der vergangene Erlebnisse dekonstruierbar werden lässt und sie indessen auch ihrer Festigkeit beraubt.
Auch durch die starke Beschränkung der Farbwahl innerhalb der Motive der Serie auf wenige Acryltöne, die stets sehr dünn auf die Leinwand aufgetragen werden, wirken die dargestellten Auszüge einer vermeintlichen Wirklichkeit ephemer und ätherisch. Eine Annäherung an das, was dort zu sehen ist bleibt daher für die Betrachterinnen ähnlich spekulativ wie für die Künstlerin selbst. Durch die Bestimmung des Verhältnisses von Farbe und Wasser zu Gunsten des Wassers, beginnen Bildausschnitte stellenweise zu fließen, zu verschwimmen oder auszubleichen. Dadurch bleiben die möglicherweise charakteristischen Mimiken der dargestellten Menschen unerkennbar, Raum-details konturlos und geisthaft. Auf ähnliche Weise unzugänglich bleiben die wenigen, farblich grell hervorgehobene Partien, die zwar den Blick anziehen, das Auge aber eher blenden, sodass dasjenige, was dort impulshaft gesehen werden möchte, eines geduldigen Schauens bedarf. Auf diese Weise beginnt ein Wechselspiel zwischen suchendem und erkennendem Sehen. Während dem Betrachten der Serie folgen wir den Erinnerungsspuren der Künstlerin und mit einem Mal entstehen Vorstellungsräume. Diese Vorstellungsräume, sind ähnlich wie Traumgespinste gewissermaßen aus der Zeit gefallen. Nicht nur, dass wir uns in Ihnen beliebig in der Zeit bewegen, Vergangenes Revue passieren und die Zukunft entwerfen können. Gleichermaßen existieren wir, während wir uns in unseren Vorstellungsräumen befinden, in einem Zeitraum des Denkens außerhalb der Zeit. Mindestens zwei Zeitlichkeiten koexistieren währenddessen: Die Zeitlichkeit des Vorstellungsraumes und diejenige des physischen Raumes, indem wir uns gleichzeitig befinden. Dennoch ist während unserer Reflexion die Zeitlichkeit der Vorstellungsdimension die dominante. Dadurch entsteht ein Gefühl der Möglichkeit, dass nicht durch die Grenzen der Temporalität beschränkt wird. Während wir als kartesische Subjekte in der Lage sind, im Denken eigenständig Vorstellungsräume zu entwerfen, um unsere Befangenheit zu transzendieren, besteht in der Realität die Herausforderung vor allem darin, dass wir selbst im Denken und somit in unseren Vorstellungsräumen von den Darstellungen Anderer abhängig bleiben, die uns das Gewesene, das Bestehende und Mögliche präsentieren. So steht auch beim Betrachten der Serie „Westen“ unser Nachdenken und Empfinden im Bann der Künstlerin. Wenn wir Denken jedoch als interaktiven, kommunikativen und transtemporalen Prozess begreifen, ermöglicht gerade die Darstellung einer anderen Perspektive durch einen Anderen, eine völlig neue Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfahren, ob diese in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft situiert sein mag. Vielleicht ist der Versuch des Verstehens, der Aufarbeitung und Aneignung der Vergangenheit als Versuch einer Liebe zum Symptom somit ein Prozess, der erst im perennierenden Dialog zwischen Künstlerin und Rezipientinnen ganz gelingen kann.

Lukas Treiber: Philosoph / Kurator / Kunsttheoretiker

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