GABRIELE WORGITZKI

1973 in Berlin geboren, studierte zuerst an der Hochschule der Bildenden der Bildenden Künste Saar und erwarb dann ihren Abschluss als Meisterschülerin bei Katharina Sieverding an der Universität der Künste, Berlin. Sie hat mit zahlreichen Werkbeiträgen an nationalen und internationalen Ausstellungsprojekten teilgenommen. Parallel zur Fotografie entstehen Serien mit ortsspezifischen Tuschezeichnungen und Videoarbeiten.

 

Phantasma,  Acryl auf Leinwand

Für ihre neuen Zeichnungen mit Acrylfarbe auf Leinwänden, betrachtet Gabriele Worgitzki Angebote von Baugrundstücken auf Internet-Plattformen (Immobilienscout etc.), besichtigt Häuser vor Ort und sucht nach 3D-Animationen unfertiger Bauprojekte. Sie zeichnet von Browserfenstern ab, direkt bei Ortsterminen oder nach den Besichtigungen der Häuser.

Gabriele Worgitzki geht der Frage nach, welche Gedankenketten die Immobiliensuche in ihr auslösen. Zum einen lockt die Vorstellung, dass ein marodes Haus nach seiner Renovierung in neuem Glanz erstrahlt und brennt der Wunsch, dass darin die Wohn- und Arbeitssituation zukünftig verbessert werden kann. Auf der anderen Seite stehen die Zweifel an der richtigen Entscheidung beim Kauf. Wartet am Ende der Suche ein Idyll oder der Ruin, die Erfüllung eines Traums oder die Ernüchterung? Die perfekte Animation eines Hauses, das Baugrundstück mit Potential stehen den Brandruinen und den Schrottimmobilien im Umland Berlins gegenüber.

Die Phantasie einzulösender Lebensträume, die Komplettierung der bis dato als unvollkommen empfundenen Persönlichkeit, die Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft und die Furcht, finanziell und sozial abgehängt zu werden, vernebeln den Blick und lassen Kaufentscheidungen irrational werden. Die Spekulation auf zukünftigen Mehrwert der Immobilien treibt die Erwartungen in die Höhe und reizt die Gier nach Renditen. Dort werden die Suchenden von den Inszenierungen der Immobilienbranche und der angeheizten Stimmung auf dem Markt abgeholt. Sie liefern ihnen meist nicht das Erhoffte, sondern ein Phantasma, das gespeist wird von einem Gemisch aus kultureller, familiärer und nicht zuletzt seelischer Prägung. Was füllt die leeren Baugrundstücke, lässt die Ruinen aufleben und bringt neues Leben in verlassene Räume? Dem Phantasma kann nur das Leiden am Unvollkommenen und Unvorhergesehenen folgen.

Gabriele Worgitzkis Serie Phantasma korrespondiert mit ihren Porträtzeichnungen. Die weißen Flächen und Leerstellen in den Darstellungen von städtischen Passanten bieten Raum für die Gedankenspiele der Bildbetrachter. Die dargestellten Körperhaltungen der Figuren offenbaren von ihrem Innenleben mehr, als den Porträtierten selbst bewusst ist.

Der Blick des äußerlichen Betrachters trifft auf das unbewusste Innere der gesehenen Menschen, ohne selbst unbefangen sein zu können. So begegnet sich der Betrachter in seinem Gegenüber auch immer selbst.

 

begehbare Räume, Tusche auf Papier, Acryl auf Leinwand

Sie arbeitet. Und gäbe es Arbeitsvorschriften für Zeichner, dann würden sie bei Gabriele Worgitzki so aussehen: Unbedingt morgens – in Ruhe – als erstes -momentan. Sie zeichnet, bevor der Tag neue Spuren schreibt und bevor die Tür zur Nacht sich ganz schließt. Sie zeichnet, wenn man so will im Korridor zwischen Bewußtsein und Unbewußtem. Im Zeichnen fand sie ein selbstlernendes System. Tägliche Praxis schult. Auge und Hand arbeiten von Jahr zu Jahr stimmiger.

Trotzdem tragen ihre Tuschezeichnungen bis heute Grate, Schürfe und verwischte Konturen. Es gibt Leerstellen, Unfertiges, Flüchtiges – doch immer auch eine Art Halt. Es passiert, wenn sie die erlebten Momente beim Vorbeischweifen festhalten will, daß sich die Essenz des Augenblicke in ihr Gedächtnis einschneidet, intellektuell scharf geschnitten wie mit Solinger Klinge. Aber schon eine Nacht später tritt eine eigene, neue Farbe dazu. Und die zeichnende Geste wiederholt viel mehr als nur das Gesehene. Dann schüttelt sie eine Gedächtnisspur der Begegnung, so flüchtig sie war, wie aus dem Handgelenk. Und der große Rest der Geschichte fließt mit der Tusche zurück ins Glas.

Thea Herold

 

begehbare Zeit, Fotografie

Der Raum der uns umgibt bleibt stetig in Bewegung, geprägt durch permanente Neudefinitionen seiner Aufgaben und Funktionen. So artikuliert sich der städtische Raum als Geflecht beweglicher Modalitäten, die sich in unzähligen Überlagerungen und Gleichzeitigkeiten bedingungslos dem Postulat des Neuen fügen. Urbane Räume erzeugen ihre eigenen Bilder, deren Eigenschaften sich freilich weniger mit differenzierten Einzelstrukturen als vielmehr in latenten, atmosphärischen Dimensionen erfassen lassen.

Gabriele Worgitzki lässt sich auf das diffuse Wabern in urbanen Räumen ein und überführt das Zusammentreffen flüchtiger Übergangszustände in eindrucksvolle Sichtbarkeit. Ihre großformatigen Fotografien greifen konkrete Orte, Straßenszenen und Personen auf und arbeiten als gesammelte, ausdruckstarke Momente fotografischer Bilderzählungen der Schnelligkeit und Beiläufigkeit entgegen. Ausgangspunkt von Worgitzkis Bildschöpfungen ist seit geraumer Zeit die Arbeit mit der Großbildlochkamera. Die lange Belichtungszeit dieser Aufnahmetechnik führt dazu, dass alles, was sich bewegt, auf den Fotos schemenhaft verschwindet, wie von Geisterhand verwaschen. Worgitzkis fotografische Inszenierungen lassen sich einerseits als momenthafte Anteilnahme, Index des Wirklichen wie auch als Erinnerungsbilder lesen, die wie die klassische Fotografie die Zeit einfrieren. Die bewusst eingesetzte Unschärfe in den Fotografien erzeugt hingegen einen Effekt des Vagen und Unwahrscheinlichen, der wie in der Malerei eine gewisse Distanz zelebriert und zwischen Realität und deren Überhöhung pendelt.

Gabriele Worgitzkis Fotografien begnügen sich nicht mit der schlichten Erscheinung urbaner Szenarien, sondern befassen sich – ganz im Geiste einer malerischen Bildkonstruktion – mit der subjektiven Wahrnehmung von Orten, Figuren und Gegenständen. So sind insbesondere die jüngsten fotografischen Arbeiten Montagen aus vorgefundenen, belichteten Versatzstücken, die in der verdichteten Bildkomposition zu einer städtischen Gesamtsituation zusammengefügt werden. Die Fotografin lässt die Personen auf ihren Bildern wie auf einer städtischen Bühne in Erscheinung treten, bei der nicht ausgemacht ist, welches Geschehen sich abspielt. Die Bildinszenierungen entziehen sich einer klaren Entschlüsselung und zeigen uns exakt jenen Zustand unterschiedlicher pulsierender Gegenwärtigkeiten zwischen präziser Ordnung und Unbestimmtheit.

Die Fotografien von Gabriele Worgitzki erzählen zugleich von der Imagination wie von der diffusen Erscheinung urbaner Szenarios. Dabei rücken Worgitzkis spezifische Ent- und Verschleierungen atmosphärische Stimmungen und die eigene Fantasie der Betrachter in den Mittelpunkt. Der Bildraum gerinnt somit zu einem Ort, an dem sich Sichtbares, Vorstellbares, subjektives Erleben und mediale Wirklichkeiten kreuzen. In der Fotoserie ‚Begehbare Zeit’ kulminieren in der Doppelbewegung des Zeigens wie Verweisens etliche Gegenwartsmomente, deren Pointe darin besteht, unterschiedliche Zeithorizonte miteinander zu verweben: Als rhetorische Spuren, die von der Vergangenheit zeugen und in Andeutungen, die auf zukünftige Erfahrungen verweisen.

Birgit Effinger

 

begehbare Zeit, Video

Gabriele Worgitzki entwickelt Bilder und Videos, die sich dem Phänomen Zeit nähern. Wir befinden uns in Räumen mit Menschen und irgendwie scheint die Zeit der Protagonisten und ihres Umfelds nicht synchron zu verlaufen. Der eine gehetzt, der andere ruhend, das Umfeld rasend. Zeitqualitäten, die sich überschneiden, an einem Ort zusammentreffen und nicht aneinander angeglichen wurden. Geschwindigkeiten werden abgebildet und Zeitläufe, die sich durchmischen und doch nicht berühren, dafür bedürfte es einer Frage oder einer Handlung. Entschuldigung, wie spät ist es? Gabriele Worgitzki zeigt uns Bilder von der Vereinzelung im Gemeinsamen. Sie macht uns auf eindringliche und nachhaltige Weise bewusst, dass es keine Gegenwart gibt, sondern nur Gegenwärtigkeiten, die sich an Orten überlagern, aber selten im Gleichtakt laufen. Die Differenz der Geschwindigkeiten ist gleich der Distanz zwischen mir und dir, der Stadt und uns. Alles was wir tun können, ist uns auf der Bühne der Geschwindigkeiten zu einer kurzen Reise zu verabreden. Einen Takt definieren, diesem zu folgen, für einen Moment oder eine Dauer. Dann wird aus rasen eine Reise und aus Stillstand eine Pause, aus einem Moment ein Monument.

Daniel Kerber

 

Die in Berlin lebende Künstlerin arbeitet im Grenzbereich zwischen Fotografie, Film und Zeichnung. Ihre Videowerke stammen aus unterschiedlichen Schaffensperioden. Ausgangsmaterial sind Standbildaufnahmen, die mit einer Lochbildkamera
aufgenommen wurden. Die älteren Arbeiten sind auf Reisen entstanden und geben einen kontinuierlich fortschreitenden Vorgang wieder: die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Peking: SKUKA. Oder der Ausblick von der sich um 360° drehenden Panoramaplattform auf der Spitze des Royal Crown Towers im kanadischen Winnipeg, bei ROYAL CROWN. Die unscharf aufgenommenen und langsam sich überblendenden Bilder vermitteln ein Gefühl von permanenter Bewegung und Geschwindigkeit. Der Landschaftsraum dient hier einzig und allein der Durchquerung. Die Betrachter*innen bekommen weder den Anfang noch das Ende der Reise zu sehen, sondern befinden sich ausschließlich im endlosen Übergang von Orten und Blicken einerseits, in das sie gerade Umgebende andererseits.

Die neueste Videoarbeit Worgitzkis beschäftigt sich mit der krakenartigen Ausdehnung von Wohnraum an den Grenzen zwischen Stadt und Land. Dazu die Künstlerin: »Es geht um die Verheißung von einem Leben im eigenen Haus. Und von vorgedachten Räumen und vorgefertigten Lebenskonzepten. Ein Lebensziel, das nicht halten kann, was es verspricht!«. Die Unschärfe in den Werken kann als ein erstes Vorzeichen des Vergessens gelesen werden, die Erinnerung an die Orte verblasst. Die Frage, was erinnere ich von einer Landschaft, einem Ort, einer Stelle stellt sich in den Videos nicht mehr persönlich, vielmehr »entpersonalisiert« die Künstlerin das Erlebte und Gesehene.

Claus Friede

 

Westen
Tiefenpsychologische Dimension

„Liebe dein Symptom wie dich selbst“ fordert uns der Psychoanalytiker und prominente Schlagzeilenphilosoph Slavoj Zizek auf. Und so gerne wir uns von den scharfen Bemerkungen des kecken Slowenen polarisieren lassen, liegt doch der Einspruch auf der Zunge und es drängt sich die Frage auf: Warum eigentlich? Wieso sollte ich mein Symptom lieben?
Um diese Frage beantworten zu können, lohnt sich ein Blick in das Handbuch der Psychologie. Hier erfahren wir, dass durch Symptome im psychologischen Sinn unbewusste, aber nicht völlig verdrängte Wünsche und Motive angezeigt werden. So kann etwa die Ausbildung einer lauten Sprechstimme als Ausdruck des unbewussten Wunsches nach Anerkennung und Liebe gedeutet werden. Das fatalistische daran: Diese Wünsche sind Ausdruck essentieller Neigungen, die so tief in der Triebstruktur der Subjekte verankert sind, dass sie ihnen nicht entkommen können. Dies klingt zunächst ziemlich unangenehm. Doch wenn Nietzsche in seinem Zarathustra den Gedanken der „Ewigen Wiederkehr desselben“ entwirft, ist das keineswegs pessimistisch gemeint. Es handelt sich sogar um die Grundlage höchster Lebensbejahung. Denn die Einsicht und Akzeptanz dessen, dass uns die Dinge – die tragischen wie die schönen – wieder und wieder erscheinen, weil sie stets durch unsere triebhaft motivierten Wunschprojektionen angereichert sind, lässt uns im Idealfall ein wenig gelassener leben.
Indessen gewinnt auch die Aufforderung „liebe dein Symptom wie dich selbst“ an Plausibilität. Denn gerade der Versuch, zu lieben, was man nicht überwinden kann, erscheint im Angesicht des Unabwendbaren als das allervernünftigste – Wenn es nur so einfach wäre! Während Zizek seine Bemerkung beinahe etwas zu lässig aus dem Ärmel schüttelt, scheint es fast so als wäre es ein Kinderspiel sein Symptom zu lieben. Doch sein Symptom zu lieben heißt im Grunde, sich auf einen Prozess einzulassen, der bei der Partnersuche beginnt und sich über eine lange Beziehungsarbeit erstreckt. Im Zentrum dieser (Selbst-)Beziehung steht das Aufsuchen, Konfrontieren und Integrieren verdrängter Triebansprüche. Da dieser Prozess sehr herausfordernd und im Grunde unabschließbar ist, versuchen die meisten Menschen ihr Symptom in den Sedimentgeschichten des Unbewussten zu verwahren und vor Aufwirbelung zu schützen. Doch wie gezeigt wurde, kann sich eine Auseinandersetzung lohnen!
So gibt es einige Menschen, die entweder aus einer pathogenen Notwendigkeit oder einem intrinsischen Interesse, ihrem Symptom auf der Spur sind – Manchmal auch ohne es zu wissen.
Gabriele Worgitzki gehört zu diesen Menschen. Ob es ihre Arbeit als Künstlerin ist, die sie empfindsamer für das Unbewusste und Transzendente sein lässt, oder ob ihre individuellen Erlebnisse
schließlich den Ausschlag gegeben haben, kann wohl nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Doch vor dem Hintergrund dessen, womit sich Worgitzki in den letzten drei Jahren ihres Schaffens beschäftigt hat, erscheint ihre aktuelle Serie „Westen“ in einem völlig neuen Licht. Hat sie sich in ihrer vorangegangenen Serie „Phantasma“, die im Zuge der privaten Immobiliensuche entstanden ist,
mit der Frage nach den Projektionen und Wünschen von Menschen bei der Auswahl ihrer zukünftigen Behausung interessiert, veränderten sich durch ein scheinbar zufälliges Detail plötzlich die Grundfeste ihrer künstlerischen Reflexion: So stieß Worgitzki bei ihrer Suche (un)versehens auf das Haus ihrer Kindheit, von dem sie geglaubt hatte, es für immer verloren zu haben. Vor diesem Hintergrund erscheinen die letzten Schaffensjahre von Worgitzki wie eine unbewusste Vorbereitung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
Die Künstlerin ist im Alter von 15 Jahren im August des Jahres 1989 mit ihrer Familie von der DDR in die BRD ausgereist. Da der Familie wie zahllosen anderen Ausreisenden untersagt war, ihr Eigentum zu behalten, musste sie das Haus und damit einen zentralen Bestandteil der gemeinsamen Vergangenheit zurücklassen. Der Versuch, auf gerichtlichem Wege das Recht an dem Haus zugesprochen zu bekommen, blieb nach einem nicht enden wollenden Prozess erfolglos. Von da an sollte Gabriele Worgitzki die Angst davor, das Haus nie mehr wiederzusehen, nicht mehr loslassen.
Wie die Erinnerung an das Leben in der DDR verlor auch der Kreis der Familie an Kontur: Die Scheidung der Eltern, das Erwachsen und der Auszug der Kinder. Retrospektiv mag der Verlust des Familienhauses wie ein Schicksalsschlag erscheinen, durch den das einst harmonische Gefüge einer intakten Familie aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist. Unter dem Verdacht nachträglicher Verklärung stellt sich jedoch die Frage, ob es jenen Ort jemals gegeben hat? So wird das Haus der Kindheit in mannigfachen Biographien als Ort der Heimat, Sicherheit und tiefen Geborgenheit empfunden, den es zu wahren gilt und der des Schutzes vor fremden Eingriffen bedarf. Währenddessen mag es vorkommen, dass Orte retrospektiv überschrieben und mit phantasmagorischen Inhalten aufgeladen werden, die nicht selten auch Attribute eines uterinen Kosmos aufweisen.
Der Verlust des Elternhauses ist also in enger Weise verbunden mit dem Verlust der universalen Einheit mit der Mutter, dem Verschwinden einer schöpfenden und nährenden Kraft. Was während der Geburt durch den „ersten Fall“ für den Säugling an Trauma entsteht, hat die Natur nicht ohne Grund durch endokrin stimuliertes Verdrängen zu kompensieren versucht. Insofern der Verlust der Geburtsstätte als Inkubator eines sich entwickelnden Lebens auch als Wiederholung des Verlustes der ursprünglichen Einheit aufgefasst werden kann, stellt sich die Frage was ein Mensch wohl empfinden mag, wenn der verlorene Ort plötzlich wiedererscheint?
Für Worgitzki bietet ihr Familienhaus als Ort symptomatischer Projektion, der nach 31 Jahren plötzlich wiedererschienen ist, eine signifikante Grundlage zur Konfrontation und Integration unbewusster Triebansprüche, traumatischer Verluste und verdrängter Sehnsüchte. So vollzieht die Künstlerin die Auseinandersetzung mit sich und ihrer Vergangenheit, die sich vergegenwärtigt hat, anhand der seriellen künstlerischen Betrachtung. Dabei wird die Immobilie zu einem psychoanalytischen Fix- und perspektivischem Anfangspunkt, um in die Geschichte des eignen Lebens und das Geschichte des Unbewussten einzutauchen.
Während der Besichtigung des Hauses nahm Worgitzki Fotos und Videos auf, die zusammen mit alten Fotografien aus ihrer Kindheit zum Ausgangsmaterial dieser der vorliegenden Serie gehören. Durch die Ansammlung und Vermengung von Materialien, die aus verschiedenen Zeiten stammen und verschiedene Zeitpunkte repräsentieren, geriet das Phänomen der Zeit in seiner Linearität für die Künstlerin im Schaffensprozess aus den Fugen. Was Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen als „Jetztzeit“ bezeichnet, ist dieser Moment der sich auflösenden Linearität, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen. Die Auflösung der Zeit und das Verschwimmen des Hier und Jetzt der Wirklichkeit verdeutlicht die Künstlerin nicht nur durch das zeitlich diffuse Narrativ der Motivreihenfolge. So motiviert der Blick auf einzelne Motive gleichsam ein Nachdenken über die Zeit. Sehr deutlich wird dies etwa durch das Play-Pause-Symbol im Zentrum des Bildes Nr. 15 aus der Serie „Westen“, dass die Optionalität eines Pausierens und Fortsetzens vergangener Ereignisse suggeriert, dass zwar in der Gegenwart des Moments nicht praktikabel gewesen, in retrospektiver Anschauung aber durchaus möglich ist. Jene Optionalität, in der Rückschau über die Zeit zu verfügen, eröffnet dabei einen vorher verschlossenen Interaktionsraum, in dem vergangene Konflikte neu ausgetragen werden können. Jener Zugang ist es, der vergangene Erlebnisse dekonstruierbar werden lässt und sie indessen auch ihrer Festigkeit beraubt.
Auch durch die starke Beschränkung der Farbwahl innerhalb der Motive der Serie auf wenige Acryltöne, die stets sehr dünn auf die Leinwand aufgetragen werden, wirken die dargestellten Auszüge einer vermeintlichen Wirklichkeit ephemer und ätherisch. Eine Annäherung an das, was dort zu sehen ist bleibt daher für die Betrachter*innen ähnlich spekulativ wie für die Künstlerin selbst. Durch die Bestimmung des Verhältnisses von Farbe und Wasser zu Gunsten des Wassers, beginnen Bildausschnitte stellenweise zu fließen, zu verschwimmen oder auszubleichen. Dadurch bleiben die möglicherweise charakteristischen Mimiken der dargestellten Menschen unerkennbar, Raum-
details konturlos und geisthaft. Auf ähnliche Weise unzugänglich bleiben die wenigen, farblich grell hervorgehobene Partien, die zwar den Blick anziehen, das Auge aber eher blenden, sodass dasjenige, was dort impulshaft gesehen werden möchte, eines geduldigen Schauens bedarf. Auf diese Weise beginnt ein Wechselspiel zwischen suchendem und erkennendem Sehen.

Während dem Betrachten der Serie folgen wir den Erinnerungsspuren der Künstlerin und mit einem Mal entstehen Vorstellungsräume. Diese Vorstellungsräume, sind ähnlich wie Traumgespinste gewissermaßen aus der Zeit gefallen. Nicht nur, dass wir uns in Ihnen beliebig in der Zeit
bewegen, Vergangenes Revue passieren und die Zukunft entwerfen können.
Gleichermaßen existieren wir, während wir uns in unseren Vorstellungsräumen befinden, in einem Zeitraum des Denkens außerhalb der Zeit. Mindestens zwei Zeitlichkeiten koexistieren währenddessen: Die Zeitlichkeit des Vorstellungsraumes und diejenige des physischen Raumes, indem wir uns gleichzeitig befinden. Dennoch ist während unserer Reflexion die Zeitlichkeit der Vorstellungsdimension die dominante. Dadurch entsteht ein Gefühl der Möglichkeit, dass nicht durch die Grenzen der Temporalität beschränkt wird.

Während wir als kartesische Subjekte in der Lage sind, im Denken eigenständig Vorstellungsräume zu entwerfen, um unsere Befangenheit zu transzendieren, besteht in der Realität die Herausforderung vor allem darin, dass wir selbst im Denken und somit in unseren Vorstellungsräumen von den Darstellungen Anderer abhängig bleiben, die uns das Gewesene, das Bestehende und Mögliche präsentieren. So steht auch beim Betrachten der Serie „Westen“ unser Nachdenken und Empfinden im Bann der Künstlerin. Wenn wir Denken jedoch als interaktiven, kommunikativen und transtemporalen Prozess begreifen, ermöglicht gerade die Darstellung einer anderen Perspektive durch einen Anderen, eine völlig neue Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfahren, ob diese in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft situiert sein mag. Vielleicht ist der Versuch des Verstehens, der Aufarbeitung und Aneignung der Vergangenheit als Versuch einer Liebe zum Symptom somit ein Prozess, der erst im perennierenden Dialog zwischen Künstlerin und Rezipient*innen ganz gelingen kann.

Lukas Treiber: Philosoph / Kurator / Kunsttheoretiker

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