begehbare Zeit, Fotografie
Der Raum der uns umgibt bleibt stetig in Bewegung, geprägt durch permanente Neudefinitionen seiner Aufgaben und Funktionen. So artikuliert sich der städtische Raum als Geflecht beweglicher Modalitäten, die sich in unzähligen Überlagerungen und Gleichzeitigkeiten bedingungslos dem Postulat des Neuen fügen. Urbane Räume erzeugen ihre eigenen Bilder, deren Eigenschaften sich freilich weniger mit differenzierten Einzelstrukturen als vielmehr in latenten, atmosphärischen Dimensionen erfassen lassen.
Gabriele Worgitzki lässt sich auf das diffuse Wabern in urbanen Räumen ein und überführt das Zusammentreffen flüchtiger Übergangszustände in eindrucksvolle Sichtbarkeit. Ihre großformatigen Fotografien greifen konkrete Orte, Straßenszenen und Personen auf und arbeiten als gesammelte, ausdruckstarke Momente fotografischer Bilderzählungen der Schnelligkeit und Beiläufigkeit entgegen. Ausgangspunkt von Worgitzkis Bildschöpfungen ist seit geraumer Zeit die Arbeit mit der Großbildlochkamera. Die lange Belichtungszeit dieser Aufnahmetechnik führt dazu, dass alles, was sich bewegt, auf den Fotos schemenhaft verschwindet, wie von Geisterhand verwaschen. Worgitzkis fotografische Inszenierungen lassen sich einerseits als momenthafte Anteilnahme, Index des Wirklichen wie auch als Erinnerungsbilder lesen, die wie die klassische Fotografie die Zeit einfrieren. Die bewusst eingesetzte Unschärfe in den Fotografien erzeugt hingegen einen Effekt des Vagen und Unwahrscheinlichen, der wie in der Malerei eine gewisse Distanz zelebriert und zwischen Realität und deren Überhöhung pendelt.
Gabriele Worgitzkis Fotografien begnügen sich nicht mit der schlichten Erscheinung urbaner Szenarien, sondern befassen sich – ganz im Geiste einer malerischen Bildkonstruktion – mit der subjektiven Wahrnehmung von Orten, Figuren und Gegenständen. So sind insbesondere die jüngsten fotografischen Arbeiten Montagen aus vorgefundenen, belichteten Versatzstücken, die in der verdichteten Bildkomposition zu einer städtischen Gesamtsituation zusammengefügt werden. Die Fotografin lässt die Personen auf ihren Bildern wie auf einer städtischen Bühne in Erscheinung treten, bei der nicht ausgemacht ist, welches Geschehen sich abspielt. Die Bildinszenierungen entziehen sich einer klaren Entschlüsselung und zeigen uns exakt jenen Zustand unterschiedlicher pulsierender Gegenwärtigkeiten zwischen präziser Ordnung und Unbestimmtheit.
Die Fotografien von Gabriele Worgitzki erzählen zugleich von der Imagination wie von der diffusen Erscheinung urbaner Szenarios. Dabei rücken Worgitzkis spezifische Ent- und Verschleierungen atmosphärische Stimmungen und die eigene Fantasie der Betrachter in den Mittelpunkt. Der Bildraum gerinnt somit zu einem Ort, an dem sich Sichtbares, Vorstellbares, subjektives Erleben und mediale Wirklichkeiten kreuzen. In der Fotoserie ‚Begehbare Zeit’ kulminieren in der Doppelbewegung des Zeigens wie Verweisens etliche Gegenwartsmomente, deren Pointe darin besteht, unterschiedliche Zeithorizonte miteinander zu verweben: Als rhetorische Spuren, die von der Vergangenheit zeugen und in Andeutungen, die auf zukünftige Erfahrungen verweisen.
Birgit Effinger